Am Abend des 9. Juni 1941, einem Montag, traf sich eine Gruppe Männer auf Einladung ihres Chefs nahe der Reichskanzlei im Hotel Kaiserhof am Wilhelmsplatz in Berlin, um einen ersten gemeinsamen Gefolgschaftsabend zu verbringen. Nach einem mehrgängigen Menü mit Spargel, Fisch und einer abschließenden Eisbombe sowie dem Verzehr diverser Flaschen Wein – unterbrochen von verschiedenen Ansprachen – verließ man die Salons 9 und 10, um im Rauchzimmer bei Sekt dem Klavierspiel eines Kollegen zu lauschen. Am Ende des Abends war man sich einig, dass der Chef gerne wieder zu einer solchen Feier einladen könne.[1] Am nächsten Morgen erschienen die Mitarbeiter, vom Feiern mehr oder weniger gezeichnet, wieder in ihrem Büro, dem „Privatatelier Rimpl“ im 4. Stock des Hauses Hildegardstraße 5 in Berlin-Wilmersdorf, um weiter am Südbahnhof für die neue Reichshauptstadt zu planen.
Als Fritz Todt am 8. Februar 1942 tödlich verunglückte und der Generalbauinspektor für die Neugestaltung der Reichshauptstadt (GBI) Albert Speer (1905 – 1981) zu dessen Nachfolger als Minister für Rüstung und Kriegsproduktion ernannt wurde, zeichnete sich schnell ab, dass der Zeitplan für die Umgestaltung Berlins nicht zu halten war. Hitler hatte verlangt, dass die „Große Halle“ als zentrales Bauwerk der Nord-Süd-Achse[2] bis 1950 fertig gestellt sein sollte; nur durch eine Fertigstellung zu Hitlers Lebzeiten würden den Bauten eine Autorität für seine „kleineren“ Nachfolger verliehen sein. Zu diesem Zweck wurde in Spandau ein propagandistisch als „Arbeiterstadt“ bezeichnetes Arbeitslager für 8.000 Menschen geplant und teilweise gebaut, die Umleitung der Spree vorbereitet und ganze Stadtviertel von Juden „gesäubert“.[3]
Die
Umgestaltungspläne hätten die städtische
Struktur
Berlins nachhaltig zerstört. Die Umsiedlungsgebiete betrafen
circa 150.000
Berliner, für die neuer Wohnraum beschafft werden musste.
Ganze kirchliche
Gemeinden mitsamt der zugehörigen Friedhöfe wurden
noch während des Krieges
verlagert – der Südwestfriedhof Stahnsdorf verdankt
seine Ausdehnung der
Auflösung der Friedhöfe von Matthäikirchhof
und 12-Aposteln, von wo 15.000 Tote
umgebettet wurden. Speer, dessen Institution diese Planungen und
Vorbereitungen
veranlasste und durchführte, unterstand nur den Weisungen
Hitlers und hatte
derart umfassende Vollmachten, dass er auf niemanden Rücksicht
nehmen musste;
dies bekam unter anderem der Berliner Oberbürgermeister
Lippert zu spüren, der
auf Betreiben Speers seines Amtes enthoben wurde.[4]
Die Nord-Süd-Achse hätte im Bereich der Berliner Innenstadt zwischen geplantem Nord- und Südbahnhof eine Länge von etwa sieben Kilometern gehabt und somit ausreichend Platz für Ministeriums- und Verwaltungsbauten des Regimes, Botschaftsgebäude „befreundeter“ Staaten und Hauptverwaltungen großer Konzerne geboten. Darüber hinaus sollten Theater, Opernhäuser und Kinos entstehen, um für die Propaganda relevante Premieren und kulturelle Angebote einen Rahmen zu bieten. Der Abschnitt zwischen „Großer Halle“ und Südbahnhof war ganz auf eine einschüchternde Wirkung gegenüber ausländischen Staatsbesuchern abgestimmt. Nach Verlassen des Bahnhofs durch das Nordportal hätte der Betrachter den 300 Meter breiten und 800 Meter langen, mit erbeuteten Kriegswaffen „geschmückten“ Bahnhofsvorplatz an seiner südlichen Schmalseite betreten. Am nördlichen Ende des Platzes hätte sich ein Triumphbogen mit 117 Metern Höhe (das 2,3-fache des Triumphbogen von Paris) aufgetürmt, durch dessen Rundbogen die vier Kilometer entfernte 300 Meter hohe Kuppel der „Großen Halle“ zu sehen sein sollte.[5]
Die Auswahl der planenden Architekten lief nach unterschiedlichen Verfahren ab. Für die Staats und Kulturbauten entlang der Nord-Süd-Achse beauftragte Speer einige der bedeutendsten deutschen Architekten; für die Repräsentationsbauten der großen Wirtschaftunternehmen hatten diese ein Mitspracherecht bei der Auswahl. Meist wurde ein geschlossener Wettbewerb ausgeschrieben, an dem sich fünf bis sechs namhafte Architekten beteiligen konnten. Wilhelm Kreis, der Erbauer der Denkmäler zur Tannenberg- und zur Völkerschlacht, sollte unter anderen das Oberkommando des Heeres und die zugehörige Soldatenhalle errichten, Friedrich Tamms erhielt den Auftrag, das Arbeitsministerium und ein Ingenieurhaus zu entwerfen; Hermann Giesler, der das einzige annähernd fertig gestellte Gauforum in Weimar entworfen hatte, plante ein Thüringenhaus. Als Architekt für das neu zu errichtende Rathaus war German Bestelmeyer vorgesehen, und Paul Bonatz sollte das Polizeipräsidium und das Oberkommando der Marine bauen. Altmeister Peter Behrens gewann den Wettbewerb für die AEG-Hauptverwaltung,[6] die Architekten Wach und Roßkotten erhielten den Zuschlag für den Hauptsitz des Allianz-Konzerns.
Der Generalbauinspektor Albert Speer behielt für sich selbst die Planung von zentralen Bauwerken an der Achse vor: für die „Große Halle“ mit dem vorgelagerten Adolf-Hitler-Palais, den Triumphbogen (in der Planungsphase „Bauwerk T“ genannt), das Oberkommando der Wehrmacht und den Südbahnhof, der in Höhe des Bahnhof Papestrasse entstehen sollte. Er griff bei der Planung auf ein Organisationsprinzip zurück, mit dem er bereits für das Reichsparteitagsgelände in Nürnberg in kurzer Zeit eine effektive Bearbeitung sämtlicher Aufgaben sicherstellen konnte. Speer delegierte die Planung einzelner Teilprojekte an beauftragte Architekten, welche mit ihren Angestellten eine kurzfristige Umsetzung der Vorgaben gewährleisten konnten. In regelmäßigen Besprechungen ließ er sich die zuvor abgestimmten Änderungen an den Plänen vorlegen, um wiederum durch Korrekturen dem angestrebten baureifen Zustand näher zu kommen.
Die Entwicklung
des
Südbahnhofs wurde Herbert Rimpl (1902
– 1978) übertragen, der als Architekt auf eine
umfangreiche Erfahrung mit
Großprojekten zurückblicken konnte. Rimpl hatte in
München Architektur studiert
und war danach Mitarbeiter von Walter Gropius am Bauhaus in Dessau. Er
galt als
Haus- und
Hof-Architekt der Heinkel-Flugzeugwerke und plante die kompletten
Werksanlagen in Rostock und Oranienburg. Für die neu
gegründete „Stadt der
Hermann-Göring-Werke“,
dem heutigen Salzgitter, unterstand ihm Entwurf und Umsetzung. Neben
seinen
Arbeiten für den GBI war er am „Mittelwerk
Dora“ sowie an unterirdischen
Produktionsverlagerungen im Rahmen des
„Jägerstabes“ beteiligt und
führte im
Auftrag der „Organisation Todt“ Rüstungs-
und Luftschutzprojekte in besetzen
Gebieten durch. Zeitweise beschäftigte Rimpl bis zu 700
Architekten, so dass
man vom größten je existierenden
Architekturbüro sprechen kann. Nach 1945
konnte er seine Arbeit – auf niedrigerem Niveau –
fortsetzen. 1964 ließ sich
Herbert Rimpl in Wiesbaden nieder und baute unter anderem das dortige
Bundeskriminalamt.[7]
In Herbert Rimpls Privatatelier in Wilmersdorf bearbeiteten bis zu 15 Architekten verschiedene Aufträge, wobei der Südbahnhof die Existenzgrundlage der Bürogemeinschaft darstellte. Daneben wurden Wettbewerbsbeiträge gezeichnet, so zum Beispiel für die Hochschulstadt im Westen Berlins, das Reichsversicherungsamt, welches eine Zeit lang an der Nord-Süd-Achse projektiert war, und für ein Verwaltungsforum in Braunschweig.[8]
Als Rimpl die Arbeiten zum Südbahnhof übernahm, hatte die Reichsbahnbaudirektion bereits umfangreiche Vorarbeiten geleistet: für die am 16. 10. 1937 vorgelegten Entwürfe zur Gleishalle zeichnete Emil Kleinschmidt als verantwortlicher Architekt[9] Dieser wechselte zusammen mit der Übertragung des Projektes auf Rimpl in dessen. Stab und übernahm später die Büroleitung in der Hildegardstraße. Sein Stellvertreter Ferdinand Keilmann war Rimpl beim Bau der „Bosch-Siedlung“ in Berlin-Stahnsdorf aufgefallen.[10] Dazu kam mit Hans Schlottmann ein langjähriger Bauleitung für die Waldbühne am Berliner Olympiastadion innehatte.[11] Ab Mitte 1941 stieß neben einem Architekten Rosenberg Friedrich Skujin zur Bürogemeinschaft, der sich als späteres Mitglieder der Bauakademie der DDR vor allem mit der Planung für die Russische Botschaft „Unter den Linden“ einen Namen machte. Die weiteren im Januar 1941 beschäftigten Mitarbeiter waren Kurt Bienemann, Max Elsner, Werner Freybourg, Max Geck, Günther Groenewold,[12] Alfred Lubs, Wilhelm Paul, Willi Prior, Walter Reitz,[13] Hans Tschierschke und Theodor Weber.[14]
Anhand des Protokolls einer Besprechung zwischen Albert Speer, Herbert Rimpl und Baurat Hans Stephan (als Abteilungsleiter im GBI zuständig für Reichsbahnplanungen) vom 25. 8. 1941, die in den von Speer bereits 1937 beschlagnahmten Räumlichkeiten der Akademie der Künste am Pariser Platz Nr. 4 stattfand, ist nachvollziehbar, wie die Arbeit am Südbahnhof im Einzelnen ablief.[15] Zur Sprache kamen: 1. Die Festlegung, dass die Nordfassade seitlich durch Kopfbauten abgeschlossen werden sollte; 2. die Aufteilung der Bahnsteighalle entweder in 5 oder 7 Fassadenfelder; 3. die Festlegung, dass die Stützen in der Bahnsteighalle ein Grundmaß von drei auf drei Metern haben sollten. Unter Punkt 4 wurde die Verwendung von schwedischem Granit für das Restaurant-Geschoss des Nordkopfes festgelegt. Ausführlich äußerte sich Speer über das Aussehen der Eingangshalle (Punkt 7), die er sich „nicht so repräsentativ“ denke. „Wesentlich sei, dass bereits in der Eingangshalle selbst Verkaufsstände für Zeitungen, Blumen usw. aufgegriffen werden.“[16] Es sollte auch auf den Gedanken der Landkarte, die vermutlich über dem Durchgang zur Gleishalle anzubringen war, zurückgekommen werden.[17] Diese Landkarte hätte nach ersten Entwürfen in stilisierter Form die Streckenführung der Breitspurbahn in Europa abgebildet. Weitere Punkte des Protokolls befassten sich mit Gestaltungsdetails und Materialauswahl. Die nächste Vorlage der überarbeiteten Pläne wurde auf den 29. 8. 1941 gesetzt, die Architekten arbeiteten unter erheblichem Zeitdruck. Zu jedem Punkt wurde im Protokoll vermerkt, welcher Mitarbeiter für die jeweilige Aufgabe zuständig war. Dabei gab es Überschneidungen; so wurde die Eingangshalle von Keilmann, Skujin und Bienemann gemeinsam bearbeitet.
Die Größe des Südbahnhofs hätte weltweit alle vergleichbaren Bauwerke in den Schatten gestellt. Die Außenmaße beliefen sich auf circa 400 mal 460 Meter bei einer Bauhöhe von etwa 72 Meter, wovon ein Drittel, unterteilt in drei Stockwerke, unter der Erde liegen sollte.[18] Allein die Stützen für das Dach der Gleishalle hatten eine sichtbare Höhe von über 58 Metern. Die Zahl der geplanten Parallelgleise schwankte über die Entwicklungsphasen zwischen 20 und 30 Gleisen, bei den konkreteren Planungen zu Beginn des Jahres 1941 waren zunächst 20 Gleise vorgesehen; das Protokoll vom 25. 8. 1941 spricht unter Punkt 6 von „der Unterbringung der zwei zusätzlichen Gleise“, so das davon auszugehen ist, dass zu diesem Zeitpunkt die Einfügung der Drei-Meter-Spur in den Grundriss des Bahnhofs erstmals architektonisch berücksichtigt wurde.[19]
Die Funktionsabläufe
des Gebäudes waren zum Planungsstand
Ende 1941 bereits festgelegt. Im Untergeschoss befand sich die
Anbindung des
Bahnhofs an das Berliner U-Bahn-Netz, darüber lag das
Verteilergeschoss zur
Erschließung der einzelnen Verkehrssysteme. Das Gleisgeschoss
war zum
umliegenden Erdbodenniveau abgesenkt, so dass der Reisende die
Gleishalle in
Höhe des Steggeschosses betrat, welches den Bahnhof axial im
Niveau der Nord- und
Südeingänge erschloss und somit einen guten Blick auf
die darunter liegenden
Bahnsteige ermöglichte. Die Übergänge
der
Geschosse waren mit Rolltreppen
vorgesehen, es befanden sich zusätzliche Tunnelverbindungen an
den äußeren
Enden der Bahnsteige; selbst ohne diese Verbindungen wären die
Laufwege
erheblich gewesen. Der Bahnhof sollte für den
Durchgangsstraßenverkehr auf östlicher
und westlicher Seite durch Tunnel unterquert werden können,
gleichzeitig war
eine enge Anbindung an die geplanten umliegenden Bauten der Reichspost
vorgesehen.
Speer reduzierte nach seiner Ernennung zum Rüstungsminister die Umgestaltungsaktivitäten; er konzentrierte sich auf die Steigerung der Waffenproduktion. Sein bisheriger Planungsstab für die Neugestaltungsstädte war jedoch von diesen veränderten Bedingungen kaum beeinflusst, da sich die führenden Mitglieder, neben Herbert Rimpl zum Beispiel Konstanty Gutschow, Rudolf Wolters und Friedrich Tamms im neuen „Wiederaufbaustab Speer“ wieder fanden. Durch diese als „kriegswichtig“ eingestufte Arbeit sicherte Speer seinen engsten Mitarbeitern und einem Teil von deren Angestellten einen Unterschlupf vor dem Sonderstab der Wehrmacht, der ständig nach potenziellen Rekruten Ausschau hielt.[20] Die zwischen 1943 und 1945 erstellten Wiederaufbaupläne bildeten nach dem Krieg dann häufig die Grundlage für den tatsächlichen Wiederaufbau – die Planer waren die Gleichen, nur die Pläne wurden demokratischen Anforderungen angepasst.
Mit der Einstellung der Umgestaltungsarbeiten zum 15. 3. 1943 löste sich die Bürogemeinschaft Hildegardstraße. Bienemann, Elsner, Freybourg und Tschierschke waren bereits im Mai 1942 zur Wehrmacht eingezogen worden, Hans Schlottmann schon im März 1941. Schlottmann geriet zum Ende des Krieges in russische Gefangenschaft und kehrte erst 1949 nach Deutschland zurück. Max Geck wurde 1942 nicht ganz freiwillig in das Baubüro der Heinkelwerke Rostock versetzt und entging so der Einberufung. Zum Ende des Krieges war er bei Jagstfeld an einem Projekt zur unterirdischen Flugzeugproduktion beteiligt und wurde späterer Bezirksbaumeister bei Karlsruhe. Ferdinand Keilmann, der nicht wehrtauglich war, wechselte in die „Deutsche Akademie für Wohnungswesen e.V.“ in Berlin-Buch, wo er an der Planung von Behelfsheimen für Bombengeschädigte beteiligt war. Zum Kriegsende baute er Wohnbaracken für eine unterirdische Produktionsverlagerung der BBC Mannheim in der Nähe von Heilbronn. Die dort produzierten Drehstrommotoren für U-Boote wurden aufgrund der Kriegslage allerdings nicht mehr ausgeliefert. Der Verbleib der übrigen Mitarbeiter liegt im Dunkeln der Geschichte.